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Der namenlose Tote

Am Abend eines glutheißen Tages im August 1981 klingelte es bei mir. Vor der Tür standen die damals jugendlichen Brüder Michael und Günter Krekeler mit einem Plastikeimer voll Knochen und erklärten mir strahlend, sie hätten einen Steinzeitmenschen gefunden. Bei der Reparatur des Pflasters hinter ihrem Wohnhaus waren sie darauf gestoßen. Die Knochen waren archäologisch gesehen recht jung, das sah ich auf den ersten Blick, aber das hatte das Westfälische Museum für Archäologie in Bielefeld zu entscheiden.

Die Untersuchungen ergaben einen Todeszeitpunkt um 1945. An der Stelle des jetzigen Wohnhauses an der Billerbecker Straße hatte damals die Scheune des Bauern Hansmann gestanden. Beim Einmarsch der Amerikaner war sie in Brand geschossen und später nicht wieder aufgebaut worden. In oder hinter der Scheune war also das Grab. Lag hier ein Verbrechen vor? Oder war der oder die Tote ein Zwangsarbeiter, die in den ersten Aprilnächten zu Tausenden durch Steinheim geschleust wurden? Musste man den Fund der Polizei melden?

Man musste! Bei der Kripo in Höxter wurde eine Akte angelegt, ein Protokoll aufgenommen und sie setzte einen Aufruf in die Tageszeitung: „Menschliches Skelett in Steinheim gefunden“. Wer damals etwas gehört oder gesehen habe möge sich bitte melden. Als sich nach der Wartezeit niemand gemeldet hatte, wurde die Akte geschlossen, der Fall schien erledigt zu sein.

Auf den Tag genau zehn Jahre später, im August 1992, bat mich eine ältere Steinheimerin um einen kurzen Besuch. Sie legte mir die alte Zeitung vor und, wenn ihr Name nie erwähnt würde und sie nichts mit der Polizei zu tun bekäme, würde sie mir die Geschichte erzählen. Versprochen!

Kurz vor Tagesanbruch am 5. April 1945 hatte ihr Vater in seiner Feldscheune das dort untergebrachte Vieh versorgt und eilte nach Hause, weil jeden Moment mit der Eroberung Steinheims gerechnet werden musste. Auf der noch dunklen Straße wurde er von einer Gruppe deutscher Soldaten angesprochen, die Trinkwasser brauchten und sich in seinem Hause waschen und kurz ausruhen wollten. Das wollte er nicht abschlagen. Völlig erschöpft fielen sie dort augenblicklich in tiefen Schlaf.

Gegen Mittag wurde es dem Bauern mulmig. Der Artillerie-Beschuss nahm zu, und vierzig Soldaten im Haus? Das konnte schnell eine Katastrophe werden. Er weckte die Schlafenden, und dankend zogen sie weiter in Richtung Höxter. Wie sich später zeigte kamen sie nicht weit. Darüber berichtete später der Steinheimer Vikar Norbert Plümpe. Er war Pfarrvikar für Rolfzen und entschloss sich in letzter Minute nach Rolfzen zu eilen, falls er dort gebraucht würde. Über den gefährlichen Weg dorthin berichtete er später:

„ ... Trotzdem konnte ich nicht umhin, unterwegs einem deutschen Truppenteil von etwa 40 jungen Soldaten, die bei lästiger Kälte, hungrig, blutig und kampfesmüde im Straßengraben lagen, meine kurze Aufmerksamkeit zu schenken. Im Augenblick erzählten sie, sie kämen von Detmold (gemeint war Horn), das sie in der vergangenen Nacht verteidigt hätten. Sie waren willens eher hier auf der Stelle zu sterben, als noch einmal eine Verteidigung aufzunehmen“.

Er schenkte ihnen seine für die Rolfzener mitgebrachten Zigaretten, und noch lange riefen sie ihm ihren Dank nach. Das war das Ende der 1. Kompanie der Kraftfahr- und Ausbildungsabteilung der Infanterie-Division 406, Kampfgruppe Karst, wie ich später ermitteln konnte.

Zurück ins Bauernhaus nach Steinheim. Der Schwiegersohn musste in der Nacht zuvor mit dem Volkssturm in Richtung Höxter ausrücken. Darauf hatten bei der hochschwangeren Frau Wehen eingesetzt. Sie war in aller Frühe zum Arzt geeilt, doch es war blinder Alarm. Weil sie in dieser spannungsgeladenen Atmosphäre nicht allein zu Hause sein wollte, ging sie zu ihren Eltern und traf auf die auf der Deele schlafenden Soldaten.

Einer wurde wach und erzählte ihr in der Küche: Sie hatten 48 Stunden lang den Eggeübergang bei Horn verteidigt, nichts zu essen und keine Munition mehr. Am Vorabend hatten sie den Kampf aufgegeben und sich in Richtung Höxter abgesetzt. Ihr einziger verbliebener Offizier, ein junger Leutnant, sei vor Horn schwer verwundet worden. Sie hatten ihn in einen vierräderigen Handwagen gebettet und auf der Suche nach einem Verbandsplatz mitgenommen. Unterwegs sei er dann gestorben. Weil bei Tagesanbruch mit Tieffliegern zu rechnen war, hatten sie ihn hinter einem Haus am Ortseingang von Steinheim begraben. Das war, wie gesagt, die Scheune Hansmann, die wenige Stunden später abbrannte.

Sie hatten die Papiere des Leutnants an sich genommen. Er war 19 Jahre alt und kam aus dem Rheinland. Dabei fand sich auch ein Foto seiner Verlobten, ein sehr hübsches junges Mädchen. Die Bäuerin war damals davon ausgegangen, dass die Soldaten mit den Papieren bei der nächsten Gelegenheit Meldung machen würden. Das war zwar anzunehmen, aber in dem Durcheinander längst nicht sicher. Warteten also irgendwo im Rheinland die Eltern und ein hübsches junges Mädchen auf ihren Sohn und Verlobten?

Die Recherchen dauerten dann zwei Jahre und konnten nur mit Hilfe von Studienrat Waldemar Becker aus Bad Driburg durchgeführt werden. Er hat im Militär-Archiv im Washington erforscht welche amerikanischen Einheiten in unserem Raum im Einsatz waren und deren Tagesberichte und andere Unterlagen studiert und kopiert Er war der beste Fachmann für meine Fragen.

Gesucht wurde zunächst bei allen großen Institutionen:
1) International Tracel Service (ITS) in Arolsen (die weltweit größte Vermissten-Kartei).
2) Arbeitsgemeinschaft für Kameradenwerke und Traditionsverbände e.V. in Stuttgart.
3) Bundesarchiv als Zentralnachweisstelle in Aachen.
4) Deutsche Dienststelle für Benachrichtigungen der Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in Berlin.
5) Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kassel.

Sie alle waren äußerst hilfsbereit, wirklich helfen konnte keine, weil es keinen Namen gab. Dann zeichnete sich ein Lichtblick ab. Jeder Divisionskommandeur der in Gefangenschaft geriet bekam zunächst zwei Wochen Zeit um die gesamte Geschichte seiner Division aufzuschreiben. Aus diesem unfangreichen Material entstand später die über 300 Bände umfassende Geschichte der Divisionen der Deutschen Wehrmacht.

Das half etwas weiter. Die erste Kompanie des Fernmeldebatallions, um die es hier geht, war ein Anhängsel der 466. Infanteriedivision gewesen. Ihre Geschichte wird in dem betreffenden Band der Divisionsgeschichte auf einer halben Seite abgehandelt, schon das zeigt ihre kurze Lebensdauer an. Erst zwei Wochen zuvor war sie in Geseke aus Versprengten und Genesenden neu aufgestellt worden. Im Raum Hamm-Soest war sie kurz eingesetzt und dann zur Egge verlegt worden. Ihr Hauptmann hieß Sprenger, die Namen der beiden Leutnants waren trotz aller Bemühungen leider nicht zu ermitteln.

Aus dem vermeintlichen Steinzeit-Fund der jungen Krekeler-Brüder war im Lauf der Zeit immer mehr ein Mensch aus Fleisch und Blut geworden, dessen Schicksal nun bekannt war, dessen Identität aber trotz intensiver Bemühungen leider nicht aufgeklärt werden konnte. Im Oktober 1993 habe ich die Nachforschungen abgeschlossen und der zuständigen Staatsanwaltschaft in Paderborn einen Abschlußbericht zugeschickt.

Was wurde aus den menschlichen Überresten? 1982 wurden am Grandweg Baggerarbeiten für das neue Pfarrheim durchgeführt, bei denen viele Knochen aus früheren Bestattungen unserer Vorfahren zutage kamen. Sie wurden von Helmut Pelle sorgfältig auf einer Rasenfläche am Krankenhaus erneut beigesetzt. Dicht dabei fand auch der namenlose Soldat seine letzte Ruhestätte.

Autor: Johannes Waldhoff, 09.10.2013 
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