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5. April 1945 - Besetzung durch die Amerikaner

Es war jedem in der Stadt klar, heute würden die Amerikaner kommen! Vor der ehemaligen Möbelfabrik Strato stauten sich noch am Vormittag mehrere hundert Menschen die aus dem Vorratslager der Kriegsmarine Zigaretten ergattern wollten. Ich stand dazwischen, wurde aber immer zurückgedrängt. „Du rauchst ja nicht!“ Oben kreisten mehrmals zwei britische „Lightnings“, schossen aber nicht, obwohl sie alles deutlich beobachten konnten. Vor der Fabriktür regelten selbsternannte Ordnungshüter die Ausgabe der Zigaretten. Jeder nur ein Paket mit fünfhundert oder tausend Stück. So lief zu dieser Tageszeit noch alles geregelt ab.

Sofort nach dem Mittagessen begann der Artilleriebeschuss. Wohl 50 bis 60 Granaten wurden von der Billerbecker Straße her abgefeuert. Die meisten waren wohl nicht für die Stadt bestimmt, dafür waren hier die Schäden zu gering. Neben der Scheune Hansmann geriet das kleine Haus Kleemann in der Bahnhofsallee in Brand. Das Feuer wurde aber unter hoher Gefahr noch während der Beschießung von holländischen oder französischen Kriegsgefangenen gelöscht, die nebenan in der früheren Werkstatt Gemmeke, später Gasthaus Schaberich, lagen.

Dann, nach einer Stunde Geschützfeuer, rief meine Tante plötzlich „Weiße Fahnen“! In dem Bewusstsein, dass er die nächsten Stunden vielleicht nicht überleben würde, hatte Pastor Dohle allen Mut zusammengenommen, war auf den Kirchturm gestiegen und hisste dort ein Bettlaken als weiße Fahne. Nur Minuten später war die Stadt ein weißes Fahnenmeer. Auch die „kleinen Hitler“, die tags zuvor noch jeden erschießen wollten der so etwas wagen würde, waren mit dabei!

Das Zeichen der Kapitulation kam in letzter Minute. Vorher hatten auf der Wöbbeler Straße zwei deutsche Königstiger auf die ersten Amerikaner gewartet, hatten die letzten zwei Schuss Munition verschossen und waren dann dröhnend durch die Stadt in Richtung Höxter gefahren. An der Langen Brücke war ihre Fahrt wegen Treibstoffmangel beendet. Sie hatten aber durch ihren Unsinn den Amerikanern das Gefühl vermittelt die Stadt würde verteidigt. Nur Minuten später wäre von denen Luftunterstützung angefordert worden – mit unabsehbaren Folgen. So schossen die ersten Amerikaner die lächerliche Panzersperre auf der Pyrmonterstraße aus dem Weg und fuhren in die Stadt.

Als erstes fuhr ein offener amerikanischer LKW durch unsere Gartenstraße. Auf der Ladefläche standen und knieten an jeder Seite etwa zehn Soldaten, die Gewehre drohend auf die Hausfassaden gerichtet. Danach war der Bann gebrochen, die Nachbarn kamen auf die Straße. Neugierig wie ich war schlich ich mich aus dem Keller. Wenig später fuhr ein Jeep durch. Auf der Kühlerhaube saß der Gärtnermeister Franz Hörning in seiner Rot-Kreuz-Uniform und rief: „Alle in die Häuser, die Gefahr ist noch nicht vorbei“! Niemanden interessierte es.

Und dann sahen wir die Rauch- und Feuersäule rechts neben der Kirche. Dort stand mein Elternhaus! Dort wohnte meine Familie! Ohne überhaupt zu überlegen rannte ich los. Auf der Marktstraße am Zigarrenhaus Lohre angekommen sah ich, dass nicht mein Elternhaus sondern weiter rechts ein anderes Haus brannte. Also hatte ich Zeit mir anzusehen wie Steinheim „gesäubert“ wurde, Haus für Haus. Lammersen, Manegold, Hotel zur Krone, Salamander-Brockmann, immer nach dem gleichen Muster. Fünf Soldaten, zwei mit schussbereitem Gewehr, blieben draußen, der dritte bollerte mit dem Kolben gegen die Haustür, dann gingen alle drei ins Haus, überprüften wohl die Bewohner, kamen aber nach kaum einer Minute wieder heraus.

Auf meiner Straßenseite schlugen zwei Soldaten bei Rolf Schulte die bereits zerschossenen Schaufenster ein. An der Schulter der Uniform hatten sie kleine rote Schilder „Polska“ aufgenäht, polnische Befreiungsarmee also. Sie waren wohl wenige Tage zuvor noch Zwangsarbeiter gewesen. Gerade wollte ich mich weiter um das brennende Haus kümmern, da geschah noch etwas Aufregendes.

Die Amerikaner waren über den leeren „Judenplatz“ zur Schulstraße weitergezogen und stießen mit dem Kolben gegen die Seitentür des Gasthauses Jägerhof. Im selben Moment ging die Tür auf, und mit erhobenen Händen kamen fünf hohe Marineoffiziere heraus. Sie trugen lange blaue Mäntel, aber ich wusste, dass darunter die Ärmel der Uniformen mit breiten goldenen Streifen besetzt waren. Ich hatte sie in den Jahren zuvor mehrfach gesehen. Sie kamen sporadisch nach Steinheim und hatten ihr Quartier in den Büroräumen der Möbelfabrik Strato. Von den Millionen Zigaretten die sie dort verwalteten wussten wir allerdings bis zu diesem Tage nichts.

Sie wurden wenige Meter weiter zum Ehrenfriedhof gebracht, dort saßen schon mehrere gefangene Soldaten auf dem Rasen, während der amerikanische Tagesrapport von viel weniger Gefangenen spricht. Doch nun zurück zu meinem brennenden Haus. Auf der gesamten oberen Markstraße war kein Fahrzeug, nur am Amtsgericht stand ein mittlerer Panzer und sicherte die Straßenkreuzung. Ich war als Zehnjähriger der einzige Zivilist und musste dort vorbei. Aber der Panzer setzte dann langsam zurück, um mich kümmerte sich niemand.

Ich hatte richtig gesehen, an der Ecke Grandweg – Emmerstraße brannte das Haus des Textilkaufmanns Johannes Müller (Kennekens Jannes). Mein Elternhaus war unbeschädigt, aber die ganze Deele war vollgestellt mit Möbeln, Geschirr und Kleidung, die ungeachtet der Gefahr von den Nachbarn aus den Wohnungen Müller und Stock gerettet wurden und die bei uns untergestellt waren. In all dem Chaos war meine Mutter merkwürdig ruhig und gefasst. Sie war bereits informiert, dass mein Vater in Sicherheit war. Am Abend zuvor musste er mit dem Volkssturm in Richtung Höxter ausrücken. Das hörte ich erst später.

Beim Antreten der etwa 80 völlig unbewaffneten Volkssturmmänner an der Langen Brücke hatte der „Kommandeur“ als Leiter der örtlichen SS-Gruppe eine Ansprache gehalten und nach den üblichen Phrasen gesagt, dass sie alle freiwillig hier seien um das Vaterland zu retten. Auf das erstaunte Aufatmen folgte dann der Satz, dass am anderen Morgen um 9 Uhr auf dem Marktplatz das Standgericht über alle diejenigen gehalten werde die zu feige seien fürs Vaterland zu kämpfen. Auf dem Marsch nach Höxter zerbröselte dann die „Freiwilligen-Volkssturmtruppe“. Nur vier von ihnen kamen in Höxter an, die anderen hatten sich abgesetzt und waren auf Schleichwegen in die Stadt zurückgekehrt. Der SS-Kommandeur tauchte Wochen später in einen Kriegsgefangenen-Lager in Cherbourg in Nordfrankreich auf - in Wehrmachtsuniform!

Als ich schließlich dazu kam war der Brand an der Emmerstraße fast vollständig gelöscht. Der Dachstuhl war abgebrannt, Feuerwehrmänner in Zivil, aber mit Helm, räumten langsam auf. Die Nachbarn standen herum, aber es war kein Amerikaner zu sehen. Verbrannt war auch Müllers Auto. Müller betrieb neben dem kleinen von seiner Frau geführten Laden ein ambulantes Textilgeschäft, indem er über die Dörfer fuhr und Waren anbot. Damit das für ihn so wichtige und wertvolle Fahrzeug nicht für die Wehrmacht beschlagnahmt wurde, hatte er es schon früh auf der Deele aufgebockt und die Räder versteckt. Das war ihm nun zum Verhängnis geworden.

Also ging ich zurück zur Marktstraße. Auch da war niemand mehr, ebenso wenig auf dem Ehrenfriedhof. Einige Steinheimer kamen mir mit großen Paketen entgegen in denen sich Zigaretten befanden. Ich wollte auch noch welche holen, aber alle sagten mir sie seien alle. Sonst gab es nichts mehr zu sehen, ich konnte in Ruhe nach Hause gehen.

Dort war es dann mit der Ruhe schlagartig vorbei. Während man in ein paar Kilometern Entfernung nach wie vor Geschützfeuer hörte, hatte man mich überall vergeblich gesucht. Die nächsten Stunden verbrachte ich dann unter Hausarrest im Keller.

Das damalige Geschehen hat sich mir so eingeprägt, dass ich noch heute alle Einzelheiten vor mir sehe. Ebenso aber auch einen Widerspruch, der sich erst auflöste als Waldemar Becker aus Bad Driburg 1985 seine Forschungen im National-Archiv Washington veröffentlichte. Immer wenn später über diesen 5. April 1945 gesprochen wurde wussten alle, dass sie an diesem Tag zum ersten Mal dunkelhäutige Afro-Amerikaner gesehen hatten. Dagegen konnte ich jeden Eid schwören, dass bei der Truppe keine dabei waren. Dazu folgendes:

Am 1. April hatten die 1. US-Armee von Süden und die 9. US-Armee vom Rhein her bei Paderborn den Ring um das Ruhrgebiet geschlossen. Weil aber auf deutscher Seite an der Weser eine neue Hauptkampflinie aufgebaut werden sollte, stellten sie die Eroberung des Ruhrkessels zurück und wandten sich nach Osten der Weser zu.

Als am Abend des 3. April die entsprechenden Befehle die 83. US-Infanterie-Division erreichten, hatten die Kommandeure für den 4. April bereits einen Ruhetag verordnet und die verfügbaren Alkoholvorräte freigegeben. So konnte der Angriff in Richtung Osten erst in der Frühe des 5. April erfolgen. Die TF „Biddle“ griff südlich von Bad Driburg her, die TF „Ritschie“ nördlich von Horn aus an.

Die TF „Biddle“ stieß nach Norden bis Nieheim vor und wandte sich dann nach Osten. Bei der TF „Ritschie“ gab es nur Chaos, nicht zuletzt weil sich in Horn die Fahrzeuge und Panzer festgefahren hatten. Es dauerte Stunden bis der Stau sich aufgelöst hatte und alle wieder fahrbereit waren. Mit stundenlanger Verspätung stieß „Ritschie“ von Horn über Belle, Wöbbel und Schieder, der Reichsstraße 239 folgend, bis Brakelsiek bzw. Rischenau vor. Steinheim wurde fast nebenbei von der Unterabteilung „Dozer“ erobert und gesäubert. Das war die Einheit, die ich auf der Marktstraße beobachtet hatte und in der sich keine farbigen Soldaten befanden.

Als „Dozer“ davon ausgehen konnte, dass kein weiterer Widerstand zu erwarten war, schloss er sich der Hauptkampfgruppe Richtung Osten wieder an. Steinheim war für mehr als eine Stunde „Niemandsland“, bis am späteren Nachmittag die TF „Biddle“ gleichzeitig von Nieheim, Vinsebeck und Rolfzen kommend die Stadt erneut besetzte. In dieser Einheit waren zahlreiche farbige Soldaten, was ich nicht wusste, weil ich im Keller eingesperrt war. Noch am gleichen Abend wurde der Gefechtstand der übergeordneten 83. US-Infanterie-Division von Bad Lippspringe über Horn nach Steinheim verlegt und blieb hier bis zum 7. April.

Im Tagesreport der 83. US-Infantrie-Division wurde in der üblichen knappen Form festgehalten: „14.05 Uhr. Man drang in die Stadt ein, indem man der Artillerievorbereitung folgte. Der erste Zug nahm 7 Gefangene.“

„14.30 Uhr: Der nördliche Steinheimer Straßenblock wurde freigemacht durch „Dozer“. „Ritchie“ zog mit seinen Einheiten ab um seinen Auftrag nach Osten weiter zu führen und überließ Steinheim „Clyde“ um die in seiner Zone liegende Stadt zu säubern.“

Im Operations-Report des 331. (oder 329?) US-Inf.-Regiments heißt es dazu: „Kompanie „G“, ohne den 2. Zug, schloss sich der Task Force „Ritchie“ an, griff an und nahm die Orte Oberheesten, Vinsebeck und Steinheim. Sie rückten 20 Kilometer vor, töteten 6 und nahmen 90 Feinde (gefangen)“.

Quellen: Waldemar Becker, Die Kämpfe zwischen Eggegebirge und Weser im Frühjahr 1945. In: Westfälische Zeitschrift, 135 Band/1985, Seite 293-366.

Waldemar Becker, Steinheim vom 3. Battallion des 329. Inf. Reg. der 83. US-Inf. Division besetzt. In: Heimatverein Steinheim, Jahresheft 1985, Seite 3-8.

Waldemar Becker gilt mein Dank, der mir aus seinen nicht veröffentlichten Forschungen die für Steinheim relevanten Unterlagen zur Verfügung stellte.

Autor: Johannes Waldhoff, 09.10.2013 
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