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Vierzehnmorgen

„Es ist ganz einfach unsere neue Wohnung zu finden“, hatte meine Tochter am Telefon gesagt, „und einen Parkplatz bekommt man dort eigentlich immer.“ Was nicht stimmte. Ratingen liegt nun mal nicht im Bayrischen Wald, sondern in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens. Aber schließlich hatte ich´s doch geschafft, schloß erleichtert mein Auto ab und würde die restlichen zweihundert Meter zu Fuß gehen. Na endlich, die Ampel zeigte Grün und ließ mir gerade genügend Zeit, um zusammen mit den anderen Fußgängern über die breite Autostraße zu hasten. Wohlbehalten erreichte ich das rettende Ufer der anderen Seite und war überrascht, denn unvermittelt fand ich mich in einer Wohngegend wieder. Ein paar rotweiße Pfähle sperrten Autos und somit Verkehrslärm aus, Hecken säumten die schmalen Wege, gaben manchmal den Blick in kleine Gärten frei.

Und hier entdeckte ich etwas, das ich nie vermutet hätte. Ich blieb stehen, schaute ein zweites Mal hin. Tatsächlich, mit weißer Kreide waren auf den Asphalt der Fußgängerstraße Quadrate gemalt, zehn an der Zahl, jedes trug eine Nummer. Kästchenhüpfen! Jahrelang nicht mehr daran gedacht, einfach vergessen. Und so was spielen unsere Kinder heute noch, oder spielen sie es wieder? Ich dachte zurück an meine eigene Kindheit (in Steinheim) und versuchte, mich an die Spielregeln zu erinnern. Es gelang mir nicht, lediglich Bruchstücke fielen mir ein. Wie war das damals eigentlich?

Vierzehnmorgen, so nannte man die Straße in unserer kleinen Stadt. Genau genommen hatte sie damals keinen richtigen Namen. Heute heißt sie Anton-Spilker-Straße. Sie führte an meinem Elternhaus vorbei, war verhältnismäßig breit und hatte kein Basalt- oder Kopfsteinpflaster wie die meisten anderen Straßen, sondern besaß eine dünne Teerdecke (und Rasen an beiden Seiten). Platz gab es da, viel Platz für unsere Kinderspiele. Nach dem Mittagessen zuerst die Hausaufgaben, dann: „Komm wir spielen auf Vierzehnmorgen!“ Treibball, Völkerball, Räuber und Gendarm. Und auch: Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann, Mutter wie weit darf ich reisen, Schnurradschlagen, Versteckspielen. Dort stand ich zum ersten Mal mit wackeligen Beinen auf Rollschuhen und dort lernte ich Radfahren. „Sie fährt allein, sie fährt allein!“ rief mein Bruder, der das Fahrrad vorher festhielt. Vor Schreck verlor ich das Gleichgewicht, stürzte und schürfte mir das Knie auf.

Im Winter aber gab`s auf der Straße unsere Schlunderbahn und ehrlich – sie war die längste weit und breit. Wenn unsere Nachbarin da ausrutschte, schimpfte sie laut, bestreute die Bahn mit Asche und machte sie stumpf. Aber wir bekamen sie doch wieder glatt.

Und wie war das mit dem Verkehr? Schließlich handelte es sich ja um eine Straße. Die meisten Leute gingen zu Fuß oder fuhren mit dem Rad. Hin und wieder kamen Bauern mit ihren Leiterwagen vorbei, doch die hörte man schon von weitem. Ein bißchen gefährlicher war es allerdings, wenn Sondermanns Aloys mit seinem Deula-Wagen nahte. Der hatte nämlich gummibereifte Räder, die kaum Lärm machten. Der alte Sondermann war Spediteur und beförderte täglich das Frachtgut vom Güterbahnhof in die Stadt. Die Peitsche lag auf seinem Schoß, aber wahrscheinlich kannten seine Pferde die Strecke auswendig und wieherten einfach, wenn wir ihnen im Weg waren. Und Autos? Die gab es ganz selten, denn wer besaß schon ein Auto. Vierzehnmorgen gehörte uns Kindern.

Aber wie ging denn bloß das Kästchenspiel? Auszählen. Ene mene muh und aus bist du. Kieselstein ins erste Feld werfen, auf einem Bein in jedes Kästchen hüpfen. Schwierig war das bei 9 und 10. Dann durften zwar beide Füße aufgesetzt werden, aber die Körperdrehung im Sprung für den Rückweg war verflixt schwer. Wehe man trat auf den Kreidestrich! „Übergetreten, du bist übergetreten! Du bist ab, ich bin jetzt dran!“ Gerti schrie das immer besonders laut. Sie war aber auch echt gut, sowohl im Steinchenwerfen als auch im Hüpfen. Selten trat sie über und wurde in der Regel Sieger.

Vierzehnmorgen. Kästchenhüpfen. Heute hatte ich es wiederentdeckt. In Ratingen bei Düsseldorf, unmittelbar neben einer Autostraße. Eine ganze Weile stand ich dort und überlegte tatsächlich, ob ich es wohl schaffe ohne Übertreten? Soll ich nicht einfach... Ein älteres Ehepaar mit Hund bog um die Ecke. Im Vorübergehen musterte die Frau zuerst mich von oben bis unten, dann meinen Reisekoffer – ein leicht irritierter Blick. So ließ ich es doch lieber bleiben.

„Schön, dass du da bist“, empfing mich meine Tochter und sagte dann, „Was bin ich froh über unsere neue Wohnung! Die Gegend hier ist Klasse, so richtig was für kleine Kinder.“ Womit sie recht hat, denn wo sonst gibt es heute noch solch ein Kinderparadies wie unser Vierzehnmorgen?

(Aus: Margret Bonnè, Vierzehnmorgen ... und andere Geschichten. Seite 21-23. Eigenverlag 2002 in 468653 Ahaus.)

Autor: Margret Bonné, 10.12.2013 
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