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Diebstahl am Volkseigentum

Ich bin nie gewahr geworden wie mein Vater das geschafft hat, aber zu Weihnachten 1943 stand unter dem Weihnachtsbaum ein Stabil-Baukasten. Das war seit langem mein ganz großer Traum, der zeitbedingt wohl nie in Erfüllung gehen würde. Doch das Wunder war geschehen. Zwar war es der Kasten Nr. 49 für Anfänger, doch anfangs trübte das meine Freude in keiner Weise. Aber wie das beiliegende Musterbuch auswies, konnte man nur einfache Sachen damit bauen.

So beschloss ich neben meinen geliebten Briefmarken auch Stabilbaukasten-Teile zu sammeln. Die Voraussetzungen waren gut. Die letzte verbliebene Kirchenglocke durfte, um Strom zu sparen, nur mit dem Seil geläutet werden. Um sechs Uhr abends war das grundsätzlich meine Aufgabe, weil es um diese Tageszeit nur selten Fliegeralarm gab und die Erwachsenen im Garten arbeiteten. Das Läuten war nicht gerade schwer für einen Zehnjährigen, aber doch anstrengend.

Zu meiner heimlichen Freude kamen Schulkameraden und Freunde die auch mal läuten wollten. Und wenn sie zwei Briefmarken, oder einen Bleisoldaten oder eben ein Stabilbaukasten-Teil mitbrachten, dann gestattete ich das großzügig. Sie durften sogar „springen“, sich also vom schwingende Seil hochziehen lassen. Die drei Sachen waren damals für mich und andere die alltägliche Währung. So erreichte mein Baukasten allmählich die Größe 52. Er war nun einfach optimal.

Allerdings gab es eine Schwierigkeit, die nicht zu beheben war. Es fehlten immer Schrauben und Muttern, die praktisch nie „auf dem Markt“ waren, aber immer dringend benötigt wurden. Mir kam eine großartige Idee.

Nachts wurden oft amerikanische Bomber abgeschossen, beim Angriff auf Kassel sollen es in unserem Raum über 60 gewesen sein. Die zerfetzten Flugzeugtrümmer lagen über weite Flächen verteilt, mussten dort mühsam zusammengesucht werden, und wurden aus der ganzen Gegend von Bauern mit Pferdewagen zum Güterbahnhof in Steinheim transportiert. Dort hatte die Firma Schwertfeger einen größeren Lagerplatz frei gemacht, wo der Schrott auf freie Transportkapazitäten wartete. Das konnte Wochen dauern.

Und an diesen Flugzeugen war doch vermutlich vieles zusammengeschraubt?

Die Vermutung war richtig, brachte aber leider keinen durchschlagenden Erfolg. Eine erste Sondierung zeigte, dass fast nur Nieten und Blechschrauben verwendet waren, mit einem Spezialgewinde ohne Mutter. Aber hin und wieder gab es auch „richtige“ Schrauben. Wie sich herausstellte mit englischen Zoll-Gewinde, für den Stabilbaukasten eigentlich unbrauchbar. Doch im Notfall konnte man sie durchaus einsetzen.

Also zog ich mit meinem Schulfreund Willi am anderen Tag zum Güterbahnhof und wir suchten und schraubten stundenlang in den gefährlichen scharfkantigen und zerrissenen Metallhaufen. Mit mäßigem Erfolg. Plötzlich sah ich ihn rufend fortrennen, und bevor ich den Grund wusste hatte mich der in der Nähe wohnende Gerätekaufmann G. am Kragen. „Du kommst sofort mit zur Polizei“ war zunächst sein einziger Kommentar.

Auf mein Gezeter hin wurde in der Nähe der Bahnbeamte Fricke aufmerksam, mit dem wir auch auf gespanntem Fuß lebten. Er kam und wollte die Ursache wissen. G. erklärte ihm unser schändliches und frevelhaftes Tun. Fricke war bodenständig und intelligent genug um diesen Quatsch sofort zu durchschauen und redete beruhigend auf G. ein. „Was“? schrie der, „Harmlos? Das ist Diebstahl am Volkseigentum!“

In dem Moment lief es mir eiskalt über den Rücken. Das wussten wir Kinder bestimmt: „Kameradendiebstahl“ und „Diebstahl am Volkseigentum“ – wer das tat wurde sofort „an die Wand gestellt“, damals eine der geläufigsten Floskeln, nicht nur bei uns Kindern. Es wurde Ernst! Mit dem Mut der Verzweiflung riss ich mich los und rannte und rannte bis ich zwischen Schwertfegers Holzstapeln in Sicherheit war. Die beiden hörte ich noch eine Weile lauthals schimpfen und nach einer langen Zeit des Abwartens schlich ich auf Umwegen nach Hause, wo Willi mich erleichtert begrüßte.

Die Erfahrung daraus? Drei Tage später schraubten wir wieder, ebenfalls mit äußerst mäßigem Erfolg. Das „Wunder“ des Stabilbaukastens, dem liebsten Spielzeug meiner Kinderjahre, blieb auf halber Strecke stecken. Aber Briefmarken sammele ich heute noch.

Autor: Johannes Waldhoff 
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