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Die Stadt der Zigaretten

1940 wurden im Stadtgebiet vier Möbelfabriken als „nicht kriegswichtig“ geschlossen, die Mitarbeiter zur Wehrmacht eingezogen. Betroffen waren Heinrich Hausmann, Josef Günther, Bernard Frechen und Franz Strato. Die beiden erstgenannten konnten nach einiger Zeit die Produktion wieder aufnehmen und wie alle anderen Wehrmachtsaufträge erledigen. In den Räumen der Firma Frechen produzierte eine Düsseldorfer Firma Panzer-Tarnnetze. Strato hatte bei seiner bekannten „politischen Unzuverlässigkeit“ keine Chance.

Dabei hatte er kurz zuvor die Fabrikgebäude neu gebaut, war hoch verschuldet und auf die Einnahmen angewiesen. Durch seine persönliche Bekanntschaft mit einem führenden Offizier gelang es ihm, die Fabrikhallen als Lagerräume an die Kriegsmarine zu verpachten. Ohne dass irgendjemand in Steinheim davon wusste, wurden dann mit Lastwagen Millionen Zigaretten angefahren und eingelagert.

Raucherkarten und Zigaretten rangierten damals als Naturalwährung ganz oben. Ein Beispiel: Pastor Dohle war wegen „Volksverhetzung“ 1935 in Werdohl aus dem Beichtstuhl heraus verhaftet und vom Sondergericht in Dortmund zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nach kurzer Zeit hatte man ihn aber vorzeitig entlassen und nach Steinheim strafversetzt. Hier hatte er Redeverbot zu allen öffentlichen Themen, ließ aber kaum eine Möglichkeit aus sich bei den Nazis unbeliebt zu machen. Bei ihnen war er bald der bestgehasste Mann in Steinheim.

Seine menschliche Stärke war der Umgang mit alten Leuten. Reihum wurden sie von ihm besucht und betreut. Dabei blieb es kaum aus, dass ihm zunächst hier und da und dann immer regelmäßiger eine Raucherkarte zugesteckt wurde, die er dann heimlich unter den Rauchern in seiner Gemeinde verteilte. Wenn dann ein Enkel auf Heimaturlaub kam und von Oma die nicht benötigte Karte abholen wollte, war diese längst beim Pastor gelandet und die Enttäuschung war groß. Dohle wurde in bestimmten Kreisen noch unbeliebter, um es vorsichtig auszudrücken.

Verwaltet wurde das Zigarettenlager Strato von hochrangigen Marineoffizieren im Rentenalter, die sich im Büro an der Pyrmonter Straße eingerichtet hatten. Man sah sie ab und zu wenn sie kurzfristig nach Steinheim kamen. Den Grund kannte niemand. Zufällig sah ich am 5. April ihre Gefangennahme, sie hatten sich wohl bewusst nach Steinheim abgesetzt. Später habe ich versucht über die Offiziere und das Lager näheres zu erfahren, leider vergeblich. Im Militärarchiv in Freiburg und im Marinearchiv in Flensburg war nichts darüber bekannt.

Bei den vielen goldenen Ärmelstreifen wunderte mich das. Bis mir jemand erklärte es handele sich wohl um aus dem Ruhestand zurückgeholte Verwaltungsoffiziere im Kapitäns- oder Admiralsrang, die aber nie ein Kommando geführt hätten. So hoffte ich dann auf die Archive der Amerikaner. Wenn die kämpfende Truppe 250 Kilometer vom Meer entfernt auf eine Gruppe hoher Marineoffiziere stößt, dann sollte das doch irgendwo einen schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Hatte es auch. In einem von Waldemar Becker, Bad Driburg, in Washington ausgewerteten Tagesrapport heißt es, in Steinheim habe man mehrere Luftwaffenoffiziere gefangen genommen. Das war es dann.

Vermutlich haben diese Offiziere dann die Freigabe der Vorräte an die Bevölkerung veranlasst. Ohne dass es groß publik wurde hatten sich einige führende Nazis zu lokalen Hütern von Ruhe und Ordnung selbst ernannt und am 3. und 4. April für jedes Dorf in der Umgebung einen Pferdewagen voll Zigaretten verteilt. Am Morgen des 5. April waren dann die Steinheimer dran. Ein Pulk von wohl 300 Leuten stand vor dem Fabriktor und wartete auf Einlass.

Für jeden nur ein Paket! Und es wurden nur so viele eingelassen wie herauskamen. Das war schwierig, weil in den „Normalpaketen“ 2.000 Zigaretten waren, es aber auch viele Pakete mit 10.000 gab. Die waren verschnürt, mussten aufgeschlitzt und aufgeteilt werden, und so wurde das Chaos immer größer. In der draußen immer unruhiger werdenden Menschentraube war auch ich dabei, wurde aber immer wieder zurückgedrängt, bis ich aufgab. Oben kreisten zwei britische Jäger, Lihtnings, die wegflogen, wieder zurückkamen und eigentlich hat wohl jeder der Wartenden damit gerechnet, dass sie jeden Moment mit dem gefürchteten Heulton angreifen würden. Haben sie aber nicht.

Ich ging zum Mittagessen nach Haus und hatte die Zigaretten vergessen. Sie fielen mir erst wieder ein, als ich von der Brandstelle Müller am Grandweg zurückkam. Die letzten mir entgegen kommenden Männer und Frauen hatten nur noch Reste in den Händen, „Zigaretten sind alle“, erklärten sie mir. Nach dem Abrücken der kämpfenden Amerikaner hatten die Nachbarn die Gunst der Stunde genutzt und Zigaretten organisiert. Ein mutiger Bauer aus der Innenstadt hatte sein Pferd angespannt und gleich den Jagdwagen hoch mit Zigaretten beladen. Als er wenig später seinen „Aussiedlerhof“ baute, nannten ihn die Steinheimer in einer Mischung aus Neid und Anerkennung den „Zigarettenhof“.

Der Ruf Steinheims als „Zigarettenstadt“ verbreitete sich in den nächsten Monaten über ganz Westdeutschland, und die gehandelten Zahlen wuchsen ins Astronomische. Dabei hatten nur die wenigsten Einwohner Zigaretten bekommen, für die übrigen war das bitter. Von überall her kamen Hamsterer, boten gesuchte Artikel an und wollten Zigaretten.

Zwei Beispiele: Aus Pömbsen kam ein Verwandter den wir kaum kannten und bot ein Paar handgefertigte Schuhe für mich an. Es waren die besten die ich je in meiner Kindheit und Jugend hatte. Und aus Bochum kam ein ebenso entfernter Verwandter mit einer schweren Kiste in der sich ein neuer Elektromotor befand. In den völlig überfüllten „Hamsterzügen“ hatte er zwei Tage bis nach Steinheim gebraucht, und am Altenbekener Viadukt musste er das schwere Teil über die steilen Böschungen hinunter und herauf und durch das Tal transportieren. „Der bringt doch wohl wenigstens zehntausend Zigaretten?“ Mein Vater wusste es nicht, und Zigaretten hatte er keine. Unsere von meinen Tanten organisierten zweitausend Zigaretten waren schnell ausgegeben.

Autor: Johannes Waldhoff, 09.10.2013 
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