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Der sterbende Kaiser

Eigentlich mochte ich die Evakuierten nicht. In der Schule waren sie uns überlegen, gaben sich meistens recht weltläufig und wurden von unserem Lehrer eindeutig bevorzugt, zumindest schien uns das so. Den Vorsprung büßten sie allerdings schnell ein. Sie konnten keine Buche von der Eiche unterscheiden, keinen Hasen vom Kaninchen und keinen Bussard vom Sperber. Und beim so wichtigen und häufigen Sammeln von Heilkräutern versagten sie völlig.

Wir waren schon über 80 Kinder in der Klasse und nun stand schon wieder einer vor dem Pult und wartete mit hochrotem Kopf auf den Lehrer. Mein Gott, dachte ich, der muss der sich doch nicht so aufregen, wir sind doch keine Menschenfresser! Es war sein Markenzeichen, das wusste ich damals noch nicht. Es spielte auch keine Rolle, denn er hatte sich mit dem Geburtsdatum vertan und gehörte in die Klasse unter uns.

So hätte ich ihn aus den Augen verloren, doch wir hatten weitgehend einen gemeinsamen Schulweg. Dabei lernte ich Bernhard als einen sehr eigenwilligen Menschen kennen. Ohne Einfluss von Computer und Fernsehen war unsere kindliche Phantasie grenzenlos. Wir logen uns gegenseitig die wildesten Sachen vor, entwickelten Pläne, von denen jeder wusste, dass sie reine Phantasie waren. Keiner nahm etwas ernst, außer Bernhard der allen Schwierigkeiten zum Trotz immer wieder versuchte soviel wie möglich von seiner Phantasie zu realisieren. Bald nannten wir ihn deshalb Knalli.

Wir beiden hatten eines gemeinsam: unsere Leidenschaft für Karl May. Die Bücher waren wahnsinnig schwer zu leihen, wenn überhaupt, dann nur gegen Bleisoldaten, Briefmarken oder ähnliche Schätze. Mir kam der Zufall zu Hilfe. Der Sohn Gerhard des Möbelfabrikanten Franz Strato hatte 22 eigene Karl May-Bände besessen, die ungenutzt im Bücherschrank standen. Er war auf dem Rückzug vor Warschau gefallen und damit wollte sich der Vater nicht abfinden. Das musste ein Irrtum sein, eine Verwechslung, jeden Moment konnte Gerhard um die Ecke kommen. Dann mussten die Bücher tiptop im Schrank stehen.

Ich erzählte meinem Vater davon. „Den kenne ich gut“ war seine Antwort und prompt sollte ich mich kommenden Sonntag nach der Kindermesse beim Vater Strato einfinden. Der verpflichtete mich auf schonende Behandlung und ich versprach ihm das Buch Mittwoch zurückzugeben. Nein solch ein Buch muss man in Ruhe lesen, also nächsten Sonntag um diese Zeit. Zweiundzwanzig Wochen lang war ich jeden Sonntag im Hause Strato und bekam einen Karl May geliehen.

„Aber nicht weiter verleihen“! Das musste ich ihm hoch und heilig versprechen.
Die anschließenden Skrupel waren unerheblich. Franz Ferdinand, ebenfalls Evakuierter und Karl May besessen, war mein Blutsbruder. „Meine Freunde sind deine Freunde und meine Feinde sind deine Feinde“ getreu nach Winnetou und Old Shatterhand hatten wir es geschworen. Also bekam er mittwochs den aktuellen Band, den er mir Samstags zurück brachte.

Von der ganzen Aktion hatte Knalli irgendwie Wind bekommen. Weshalb ich mich breit schlagen ließ weiß ich heute nicht mehr, jedenfalls holte er sich jeden Dienstagabend „meinen“ Karl May und brachte ihn Mittwochmorgen wieder mit in die Schule – mit knallroten Augen! Er hatte ihn über Nacht unter der Bettdecke gelesen.

Der Krieg war länger als zwei Jahre zu Ende als meine Tante aus Dortmund zu Besuch kam. Im Gepäck hatte sie für mich einen Karl May – nicht irgendeinen, sondern Band 55, „Der sterbende Kaiser“. Den hatte in Steinheim noch nie jemand gesehen, geschweige denn gelesen. Er war so etwas wie die „Blaue Mauritius“ bei den Briefmarken, von der wir häufig phantasierten ohne zu wissen wie sie aussah.

Das Buch war eigentlich eine „Loseblatt-Sammlung“, und offenbar hatten frühere Leser Speckschwarten als Lesezeichen benutzt. Und es hatte eine zeittypische Geschichte. Mein Vetter Josef hatte es, als er in der Spätphase des Krieges vom Reichsarbeitsdienst entlassen wurde, in der Stadtbücherei Dortmund ausgeliehen. Er war aber schneller als erwartet zur Wehrmacht eingezogen worden und kurz darauf gefallen. Als meine Tante irgendwann aus ihrem Vorort in die Stadt kam und es zurückbringen wollte, standen von der Stadtbücherei nur noch rußgeschwärzte Mauern. So wurde ich der stolze Besitzer.

Natürlich hatte Knalli bald davon erfahren und hoffte auf den sterbenden Kaiser. Aber ich ließ mir Zeit. Er sammelte zwar keine Briefmarken, hatte aber eine aus Peru bekommen, mit einem leibhaftigen Indianer darauf. Obendrein war sie blau und sicher noch mehr wert als die „Blaue Mauritius“. Diese Überlegung hatte allerdings auch ihn beschäftigt, deshalb wollte er sie partout nicht herausrücken. Nach längerem Zergen gab ich doch nach und lieh ihm das Buch. Ganz umsonst!

Sonst war er die Zuverlässigkeit in Person, aber der Karl May kam nicht zurück. Nachdem er mir wochenlang aus dem Weg gegangen war, deutete mein Bruder an, dass da etwas passiert sei. Und das war es. Die Geschichte kam später heraus. Bernhard hatte in Hörlings Lehmkuhle die familieneigene Ziege gehütet und dabei gelesen. Als ein paar Freunde vorbei kamen, pflockte er die Ziege an und ging mit ihnen auf Abenteuersuche. Das machte sich die Ziege zunutze und fraß die ersten 20 Seiten.

Wochen später lag vor unserer Haustür mein Karl May, sorgsam in braunes Packpapier gewickelt. In schöner Kinderhandschrift stand oben auf Seite 21: „Die anderen hat die Ziege gefressen“. Und dabei lag ein kleines Tütchen mit der blauen Indianer-Briefmarke aus Peru. Bernhard wurde später Landgerichtsdirektor in Köln. Die Indianer-Briefmarke ist heute 20 Cent wert.

Autor: Johannes Waldhoff, 09.10.2013 
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