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Schlachtefest?

Als mich vor einigen Wochen Herr Rose fragte ob ich heute hier einen Vortrag über Hausschlachten in früherer Zeit halten würde, hatte ich eigentlich keine Lust. Doch dann überlegte ich, dass kaum einer hier im Zelt aus eigener Erfahrung weiß was „Schlachten“ überhaupt bedeutete. Deshalb möchte ich Ihnen vortragen wie ich als Kind oder in jungen Jahren das Schlachten erlebte.

In dieser Zeit, so ab 1941, gab es für mich zwei Sorten Menschen: Bauern und „Teil-Selbstversorger“ – so hießen wir damals. Dabei waren die „Kleinen Leute“ in der Viehhaltung in der Überzahl. Ob Handwerker oder Arbeiter, Beamter oder Fabrikant, nahezu alle hatten Vieh im Stall. Vor allem die Handwerker hätten ohne Schweine, Ziegen und Hühner gar nicht existieren können.
So kam kurz nach Weihnachten mit exakter Regelmäßigkeit die Zeit des Schlachtens auf mich zu, und die hasste ich. Eigentlich war ich für diese Arbeit nicht zu gebrauchen. Doch mit meinen acht Jahren war ich zu Hause und beim Großvater der einzige „Mann“ im Haus. Vater war Soldat oder in der Firma Ottomeyer dienstverpflichtet, Großvater war 80 Jahre alt.

Um Schlimmerem zu entgehen meldet ich mich frühzeitig und freiwillig zum Strickhalten. Wenn das Tier betäubt war, schlug es wild um sich. Um zu verhindern, dass der Metzger verletzt wurde galt es mit einigem Geschick einen Strick um die Hinterbeine zu schlagen und stramm zu ziehen. So war ich am weitesten vom blutigen Geschehen entfernt. Blut rühren, Molle halten für die Eingeweide oder beim „Brennen“ mit kochendem Wasser und einer Blechkelle die Borsten abschrappen, das konnten dann andere tun, dazu war ich zu dumm.

Geschlachtet wurde auf der Deele, oder beim Großvater im Schuppen. Wenn dann endlich das aufgeschnittene Schwein an der Leiter hing, wurde es ins Haus transportiert um es vor anderen Tieren zu schützen. Dort musste es zwölf Stunden lang auskühlen, sonst hielt sich das Fleisch nicht. In anderen Gegenden wird sofort mit dem Wursten begonnen. Wieso sich dort das Fleisch trotzdem hält, ist mir heute noch ein Rätsel.

Das Blut wurde im Eimer aufgefangen, gerührt und später zu Blutwurst verarbeitet. Ein Teil floss trotzdem mit viel Wasser verdünnt in die Gosse und fror dort und bildete eine wunderbare „Schlunderbahn“, denn damals gab es noch richtige Winter.

Ein besonderes Kapitel waren für mich die Hausschlachter, die in der übrigen Jahreszeit als Bauhandwerker arbeiteten. In den ersten Jahren, im Krieg also, war bei Eltern und Großeltern der alte Müller unser Metzger. Er war Dachdecker, um die siebzig Jahre alt und musste jeden Tag mindestens 16 Stunden arbeiten. Ich habe erlebt, dass er beim Wursten im Stehen einschlief und trotzdem noch Wurst in die Därme presste. Als der Krieg zu Ende war löste ihn sein Sohn im Beruf ab. Bei dem ging dann alles viel schneller. Aber er war nach einigen Jahren als Dachdecker so überlastet, dass er die Hausschlachtung aufgeben musste.

Bei meinen Eltern schlachtete dann Lütkefend. Im Krieg war er Feldwebel gewesen und einiges davon war hängen geblieben. Schon in de Hautür rief er: „Ist das Wasser heiß? Sind die Pinne fertig? Ist genug Salz und Pfeffer da?“ Es war immer alles in Ordnung, das war nur ein Ritual. Aber alle waren erst mal nervös, auch das Schwein.

Für mich begann das Schlachten schon viel früher. Das Geschirr, Fleischwolf und das mordsmäßig schwere Hackebrett mussten mit dem Handwagen von irgendeiner Familie irgendwo in der Stadt geholt und nach dem Wursten zu einer anderen gebracht werden.

Das Wursten begann beim alten Müller pünktlich um 4 Uhr früh. Meine Arbeit begann um halbn 5: Fleischwolf drehen, drehen, drehen, anschließend Wurstebänder anreichen, dann für die gekochte Wurst drehen, drehen, drehen!
Wenn die Schinken zugeschnitten und in der Brennemolle waren, die Mettwurst im Darm und die anderen Würste auch, dann war meine Arbeit erledigt, es war Zeit zur Schule zu gehen. Wenn ich mittags aus der Schule zurückkam, roch das ganze Haus nach Gewürzen und gekochtem Fleisch. Tagelang würde meine Mutter nicht mehr ansprechbar sein, bis endlich alles richtig und an Ort und Stelle war.

Dabei begann das Schlachten schon viel früher. Auf dem Rathaus musste es erst einmal angemeldet und eine Bescheinigung geholt werden. Dann kam Lebbing. Manche schimpften auf ihn, wir kamen immer gut mit ihm klar. Er musste das Schwein lebend sehen und das Gewicht feststellen. Natürlich gab es keine Waage. Also wurde die Länge des Tieres mit dem Zollstock und der Bauchumfang mit einem Bindfaden gemessen. Mit einer bestimmten Formel wurde das Gewicht errechnet, erstaunlich genau, wie man später einmal feststellte.

Jedem Teilselbstversorger stand in der Regel ein halbes Schwein zu. Bei dem Dreipersonen-Haushalt meines Großvaters waren das 1 ½ Schweine – ein halbes musste abgeliefert werden an Leute, die nicht selbst schlachteten. Das im Lauf des Jahres sehr mühsam gefütterte halbe Schwein wurde mit Geld bezahlt, für das man nichts kaufen konnte. Im Grunde wurde es verschenkt.

Natürlich wollten die so Bedachten keine Innereien, sondern zusätzlich Wurst und Schinken. Noch schwieriger wurden die Auseinandersetzungen, wenn das Schwein Übergewicht hatte. Dann mussten von der verbleibenden Hälfte zehn oder mehr Kilo zusätzlich abgeliefert werden, der endlose Streit war vorprogrammiert.

Zwischen Schlachten und Wursten kam der Trichinenbeschauer August Meihost, den wir als ausgesprochen netten Menschen kannten. Das war für mich immer sehr spannend, denn kaum hatte er seine Geräte ausgepackt, dann lag er schon mit meinem Großvater im politischen Clinch. Trotz aller Ermahnungen seiner beiden Töchter nicht über Politik zu sprechen, schimpfte er laut und sehr deutlich. Er war 80 Jahre alt und meinte recht, dass ihm nichts passieren würde.

Meihost erklärte meinem Großvater dann in aller Ruhe, dass der Krieg Opfer von allen fordere, dass er aber wichtig sei für die Freiheit unseres Volkes und dass der Führer das schon alles richtig machen werde. Großvater hatte vier stolze Söhne großgezogen, und als der Erste Weltkrieg zu Ende war, waren zwei von ihnen tot, der dritte kam krank und mein Vater mit zerschossenem Arm zurück. Für einen wichtigen oder gar gerechten Krieg war er beim besten Willen nicht zu haben.
Im Januar 1945 kam Meihost zum letzten Mal. Er gab meinem Opa die Hand, „Entschuldigen sie Herr Waldhoff, jetzt kann ich sie verstehen“. Und dann sah ich zum erstenmal in meinem jungen Leben einen erwachsenen Mann weinen. Sein einziger Sohn war gefallen, seine Welt zusammengebrochen.

Übrigens waren alle unsere Schweine trichinenfrei, sie konnten bedenkenlos gegessen werden. Und alle hatten Geburtstag. Aber sie über ein Jahr lang zu füttern und zu ernähren, das war oft ein Kunststück. Jeden dritten Abend im Rosengrund Gras mähen, im Sommer Ähren und im Herbst Eicheln suchen und mit dem Hammer zerkleinern, das war meine Aufgabe. Die Frauen traf es härter.

Runkeln nahmen das größte Beet im Garten ein. Aufgezogen und nach Hause geholt wurden immer nur 15 bis 20 Stück, denn auch das Laub war wertvolles Futter. Schweinetopf kochen und, und, und ... Wenn sich das Tier bei solch liebevoller Pflege gut machte und viel Speck ansetzte, dann musste das Übergewicht an andere Leute abgeliefert werden, die nicht das Geringste dazu getan hatten.

Dann kam das größte Problem. Das nächste Schwein konnte erst in zwölf Monaten geschlachtet werden, bis dahin musste das alte reichen. Kühlschrank und Gefriertruhe gab es nicht. So viel wie möglich wurde eingekocht, Aber Gläser und Gummiringe waren knapp. Konservendosen ebenfalls. Zudem mussten sie jedes Mal vorher zu Wegesins gebracht, abgeschnitten und neu verschlossen werden. Sie wurden also jedes Jahr kleiner.

Also mussten Fleisch und Wurst „gestreckt“ werden. Die letzte Leberwurst war fast trocken und schmeckte kaum noch nach Leberwurst. Blutwurst und Sülze gingen allmählich mit dem Darm eine enge Verbindung ein, dass man sie wie einen Apfel schälen musste. Im Herbst, wenn der Schinken angeschnitten wurde (von wegen „wenn der Kuckuck ruft“), war das Weiße gelb, ebenso der Speck. Aber der kam ja in den Eintopf! Und anschließend schmeckte auch der etwas ranzig.
Einen Lichtblick gab es. Ende 1943 kamen mein Vetter und meine Cousine aus Dortmund als Evakuierte nach Steinheim. Die waren „Normalverbraucher“ und bekamen Fleischmarken. Am Samstagabend gab es nun gekaufte Wurst, Jagdwurst. „Wasserwurst“ schimpften manche Leute, aber für mich war sie eine Köstlichkeit.

Schlachtefest – heute ist das etwas romantisches und bedeutet im Verein oder in sonstiger geselliger Gemeinschaft miteinander essen und trinken. Für mich war es wahrlich kein Fest und ich habe in meiner Jugend auch nie gehört, dass das jemand behauptet hätte. Und ich stelle mir vor, meine Eltern und Großeltern würden für einen Tag aus ihrem Grab aufstehen. Dann müsste ich ihnen erklären, dass es Vegetarier gibt, Menschen die freiwillig kein Fleisch essen. Und dann Veganer. Andere, die kein Leder benutzen weil es von Tieren kommt, und die deshalb auch keinen Honig und keine Eier essen. Ich glaube sie bekämen vor Entsetzen einen Herzschlag und wollten nur noch in ihr Grab und ihre „Gute Alte Zeit“ zurück.

(Vortrag am Tag der Landwirtschaft 2015 beim Landwirtschaftlichen Verein Steinheim-Rolfzen-Hagedorn im Festzelt am Lipper Tor)

Autor: Johannes Waldhoff, 09.03.2018 
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