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Die Chronik der Stadtchronik

1952 trat ich in die Kolpingfamilie Steinheim ein, die jeden Montagabend ohne festes Programm ihre Versammlung hatte. Zu einer dieser Versammlungen kam Hermann Mertens mit einem Buch unter dem Arm, aus dem er uns vorgelesen hat. Es war die Stadtchronik 1800 bis 1884, heute „Bürgermeister-Chronik“ genannt. Für mich war es die erste Begegnung mit der Stadtgeschichte, die dann vertieft wurde, als in der Folgezeit der damalige Kreisheimatpfleger Rektor Heinrich Rüther monatlich einen Vortrag über verschiedene Aspekte der Steinheimer Geschichte hielt.

Zehn Jahre später wurde im Vorstand über das neue Programm beraten, und weil seinerzeit die Lektüre der Chronik auf allgemeines Interesse gestoßen war, wollte ich diesen Vortrag wiederholen. „Die hatte ich damals selbst geliehen, da musst du dich an Friedrich Meyer im Wiechersweg wenden“, meinte Hermann Mertens. Das habe ich dann getan und von Herrn Meyer erfuhr ich die vollständige Geschichte der Steinheimer Stadtchronik.

1817 hatte die Preußische Regierung alle Städte und Gemeinden aufgefordert rückwirkend ab 1800 eine Chronik zu führen. Außer in Grevenhagen, das damals noch zu Lippe gehörte, wurde diese Anordnung in allen Gemeinden des Amtes befolgt – nur nicht in Steinheim. Der damalige Bürgermeister Franz-Josef Vahle ignorierte sie einfach. Vollständig und lückenlos erhalten ist die „Preußische Gemeindechronik“ allerdings nur in Hagedorn. Doch das ist eine andere Geschichte.

Als dann 1830 der Sohn Philipp Vahle zum Bürgermeister gewählt wurde, holte er das Versäumnis des Vaters gründlich nach. Er rekonstruierte aus Akten und Unterlagen die Zeit ab 1800 und erweiterte seinen Bericht noch um Nachrichten aus der Stadtgeschichte des Chronisten Conrad Pyrach, aus der Zeit um 1780. Ohne seine Arbeit wäre bei uns viel Wissenswertes für immer verloren gewesen.
Philipp Vahle war die Stadtchronik fortan ein Herzensanliegen, davon zeugen schon seine einleitenden Worte:

„Einer hochverehrlichen Verfügung der Königlichen Regierung zu Minden gemäß, ist es allen Gemeinden auferlegt, ein Chroniken-Buch vom Jahre 1800 an zu eröffnen und regelmässig fortzuführen. ... Jeder Mensch, selbst der ungebildetste, zeigt ein lebhaftes Interesse für die Geschichte seiner Vorfahren. Er ist stolz darauf, etwas rühmliches von ihnen erzählen zu können und deshalb bilden sich im Munde des Volkes die märchenhaftesten Erzählungen von den Altvorderen. Die rühmlichsten Thaten die in der Gemeinde geschehen sind möchte jeder gern seinen Vorfahren aneignen und deshalb wird die Geschichte eine Schule der Tugend.
Wenn die Chronik in der Versammlung der schlichten Bürger vorgelesen wird, so hört jedes Mitglied gerne seinen Namen nennen, und es beeifert sich, auch etwas gutes zu stiften, weil es weiß, dass es in der Chronik aufbewahrt wird, und daß ihn einst seine Nachkommen dafür segnen“.

Vahles Amtsnachfolger Clemens Wichmann führte die Chronik ab 1861 bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahre 1884 weiter. Dann ruhte sie. Ludwig Rohden war als Bürgermeister sicher die verdienstvollste Persönlichkeit im 19. Jahrhundert, aber die Chronik hat er nie weitergeführt, was in Steinheim nicht bekannt war.

Auf dieses Manko stießen dann die beiden aktiven Heimatfreunde, der Möbelfabrikant Anton Spilker (1877 – 1943) und der Bankkaufmann Ludwig Kremer, im Jahre 1926. Zunächst ließen sie die handschriftliche „Bürgermeister- chronik“ auf ihre Kosten mit der Maschine abtippen und einbinden. Das Original erhielt Spilker, den ersten Durchschlag bekam Kremer, den zweiten der Bürgermeister Starp. Mit dem dritten hatten sie etwas Besonderes vor. Sie schenkten ihn dem Stadtsekretär Friedrich Meyer und überzeugten ihn, die verflossenen 42 Jahre soweit möglich zu rekonstruieren und von jetzt an die Stadtchronik laufend fortzuführen. Meyer schilderte die Situation so:

„Zu meinem Geburtstage am 11.6.1926 erhielt ich von dem mir befreundeten Kunsttischlermeister Anton Spilker hier, Sedanstraße 419 eine Abschrift der Chronik der Stadt Steinheim von 1800 bis 1884, die er in Gemeinschaft mit dem Kaufmann Ludwig Kremer hier, Bahnhofstraße 430, angefertigt habe. Eine weitere Abschrift übergab er mir zur Aushändigung an Herrn Bürgermeister Starp.

Nach Durchsicht der mir übergebenen Abschrift wurde in mir der Gedanke wach die interessanten wertvollen Aufzeichnungen soweit möglich fortzusetzen. Zunächst stellte ich aus meinen Tagebüchern aus meiner Dienstzeit als Polizei-Sergeant ab 1.10.1907 alle wichtigen Notizen zusammen, ... (sowie) alle wichtigen Lokalnotizen aus der Steinheimer Zeitung. Noch viele wichtige Aufzeichnungen erhielt ich von dem mir sehr befreundeten Kaufmann Ludwig Kremer. So konnte ich schon beginnen. Herr Rektor Theodor Rose hier, Pyrmonterstraße 357, gab ferner ein kleines Heimatblatt heraus und überließ mir manche seiner Aufzeichnungen über die Geschichte der Stadt und der Kirche ...“

Meyer sah seine Arbeit zunächst nicht als fertige Stadtchronik. Er schrieb alles auf, was er als erhaltenswert ansah, und aus diesen tausend handgeschriebenen Seiten sollte später ein Berufenerer die Chronik verfassen. Als dann 1941/42 allen Kommunen mitgeteilt wurde, dass die Stadtchronik jederzeit der Gestapo zur Einsichtnahme vorzulegen sei, legte er die Feder aus der Hand. Auch das wusste niemand.

Als Meyer dann in den fünfziger Jahren in Pension ging, trug er die drei schweren Ordner der Chronik zum Rathaus und bat den damaligen Oberamtmann dringend, sie nicht nur in den Schrank zu stellen, sondern einbinden zu lassen. Er hatte Sorge, dass jemand daraus Seiten entfernen könnte wenn er etwas für sich unliebsames darin finden würde.

Der nur mäßig interessierte Beamte sah das Ganze nicht als besonders wichtig an. „Fritz, meinte er, du weißt wie so etwas hier ist. Am besten nimmst du alles wieder mit nach Hause. Wenn wir sie dann mal brauchen, wissen wir wenigstens wo die Stadtchronik ist“.

Meyer war zutiefst enttäuscht. „An Sonn- und Feiertagen und jeder Freizeit stellte ich dann zu Hause meine gesammelten Notizen zusammen und ordnete sie nach Daten“. So hatte er 1926 im Vorwort notiert, als er die vergangenen 42 Jahre rekonstruiert hatte. Unermüdlich hatte er weiter geschrieben, tausend Seiten, und jetzt wollte man sich auf dem Rathaus nicht damit befassen, man wollte sie nicht haben! „Die Chronik ist jetzt mein Privateigentum, wenn sie tatsächlich einmal gebraucht wird, dann sollen sie dafür bezahlen. Und vorher wird sie auch nicht ausgeliehen“.

Das erzählte er mir bei meinem Besuch. Und auf die Bitte mir die Chronik doch auszuleihen: „Ich würde sie ihnen trotzdem geben, aber sie ist bei meinem Sohn in Wolfenbüttel“. Die Zeit war inzwischen knapp, und der Sohn war im Begriff nach Bremerhaven zu ziehen. Der gesamte Hausrat war verpackt, wenn überhaupt, dann könne es lange dauern bis die Chronik wieder greifbar sei. So die enttäuschende Auskunft.

Meyer gab mir noch einen wertvollen Tipp. Der Architekt Heinrich Spilker habe das getippte Original, vielleicht würde der mir helfen? Er half mir! Der Vortrag in der Kolpingfamilie konnte gehalten werden und fand viel Anklang. Aber die ganze Geschichte ärgerte mich. In einer Stadt wie Steinheim wurde seit 1942 keine Chronik mehr geführt, und alles davor Aufgezeichnete war irgendwo in Bremerhaven.

Während der Kolping-Versammlung sprach ich mit Karl Düwel darüber, und der traf sich mit Willi Gemmeke. Beide setzten sich mit dem äußerst aktiven Amtmann Heinz Gellhaus in Verbindung und aus mehrfachen Gründen wurde daraus eine Sternstunde für Steinheim. Gellhaus gab der Geschichtsschreibung und Heimatpflege in unserer Stadt völlig neue und nachhaltige Impulse.

Heinz Struck (1931-1980) interessierte sich schon längere Zeit für die Heimatgeschichte und beim Sammeln alter Steinheimer Fotomotive arbeiteten wir beiden eng zusammen. Josef Menze stieß als Fachmann für Lokalgeschichte hinzu und Heinrich Spilker, Anton Spilker, Josef Potthast, Dr. Ahls, die Stadtverordneten Anton Becker, Willi Gemmeke, Willi Humpert, Bürgermeister Krüger, Amtsoberinspektor Meyer und der damalige Stadtheimatpfleger Rektor Wilhelm Mertens fanden sich auf Einladung von Heinz Gellhaus zur Gründung des „Kuratorium heimatliches Kulturgut“ Ende Juni 1964 auf dem Rathaussaal zusammen.

Zur allgemeinen Überraschung brachte Rektor Mertens eine dicke Mappe mit. Sie enthielt das handschriftliche Original-Manuskript der „Bürgermeister-Chronik“ von 1800 bis 1884. Irgendjemand hatte es ihm Anfang April 1945 anvertraut, als SA-Männer große Mengen Akten aus dem Rathaus holten und auf dem Kirchplatz verbrannten. Das Manuskript schien ihm in jenen Tagen im Rathaus nicht mehr sicher genug. Als das Gedächtnis der Stadt sollte es unter allen Umständen erhalten bleiben.

Heinz Gellhaus hat dann viele Abende und halbe Nächte lang in aufopferungsvoller Arbeit an der Rekonstruktion der Stadtchronik seit 1945 gearbeitet und sie dann von 1964 bis heute weitergeführt. 67 Jahre unserer Stadtchronik stammen aus seiner Feder! In gekürzter Form wurde sie 1982 in dem Heimatbuch „Steinheim“ abgedruckt und dann von 1982 bis 2012 in jährlicher Folge in den Jahresheften des Heimatvereins veröffentlicht.
Zum Stadtjubiläum 1970 gelang es Heinz Gellhaus dann, von den Erben Friedrich Meyers das Recht zum Kopieren der Chronik zu erwerben. Seitdem steht ihr Inhalt den Heimatfreunden in der Stadt für ihre Arbeiten zur Verfügung.

In diesem Jahr 2013 legte nun auch er die Feder nieder. Michael Großmann-Wedegärtner hat sich erfreulicherweise bereit erklärt diese Aufgabe zu übernehmen. Wir wünschen ihm viel Erfolg und Freude an dieser Arbeit. Heinz Gellhaus aber gilt unser aller Dank für seine fünfzigjährige ehrenamtliche Tätigkeit im Dienste aller Bürger in unserer Stadt.

Autor: Johannes Waldhoff 
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